Mit dem Luftgewehr aus zehn Metern Entfernung den kleinsten der zehn Ringe einer Zielscheibe zu treffen – »die Zehn« – und damit ein Ziel mit einem Durchmesser von gerade einmal 0,5 Millimetern: Das ist die Passion von Moritz Möbius. Dabei geht es um eine Genauigkeit von Zehntel Millimetern – elektronisch erfasst und digital auf einem Bildschirm wiedergegeben. Die höchst erreichbare Punktzahl pro Schuss
beträgt also 10,9.
Was den Schwierigkeitsgrad des Unterfangens zudem erhöht: Von Geburt an hat Moritz Möbius eine seltene Kleinwuchsform, die diastrophische Dysplasie heißt und mit zusätzlichen Skelettveränderungen einhergeht. »Deswegen habe ich auch kürzere Arme und kann das Gewehr nicht so halten, wie es normal wäre«, erklärt der 22-Jährige. Gehen kann er nur wenige Schritte am Stück, »deswegen sitze ich meistens im Rollstuhl.«
Mittels Untersuchung durch ein internationales medizinisches Komitee wurde der 135-Zentimeter-Mann für die olympischen Spiele der Wettkampfklasse SH2 zugeordnet. Das bedeutet: Er darf einen Auflageständer verwenden. Dazu liegt der Gewehrlauf auf einer Feder, »die wackelt, je schwerer das Gewehr wird und simuliert dadurch das Halten des Gewehrs mit dem freien Arm«, erläutert Moritz Möbius, »es geht darum, das Gewehr trotzdem ruhig zu halten.«
In zwei Disziplinen startet der Parasportler in Tokio: Luftgewehr liegend und Kleinkaliber liegend, mit jeweils 60 Schuss in einer Stunde. Das Luftgewehr bringt runde fünf Kilo auf die Waage. Das Kleinkaliber gar, mit dem Moritz Möbius auf eine Distanz von 50 Metern auf eine etwas größere Zielscheibe schießt, wiegt sieben bis acht Kilogramm.
Liegendschießen im Sitzen
Das Liegendschießen absolviert er an einem Schießtisch sitzend. Um sich auf den Hocker zu hieven, benötigt er eine Aufsteighilfe. Das Liegen simuliert er, indem er sich an die Platte des Tisches lehnt. Und zwar möglichst entspannt. So wie entspannte Muskeln beim Schießen überhaupt das A und O sind. Denn generell gilt: Beim Abdrücken darf das Gewehr nicht einmal minimalst erschüttert werden, das verzieht den Schuss sofort. Schießt man mit auch nur der leichtesten Muskelverspannung, so löst sie sich beim Schuss und gibt diesem einen ungewollten Schlenker.
Der seit rund zehn Jahren als Sportschütze Aktive lächelt: »Das ist eine Wissenschaft für sich.« Umso mehr, als es die Entspannung im Wettkampf für mehr als eine Stunde zu halten gilt. »Ich persönlich schieße eher schnell«, sagt er, nimmt von den für die 60 Schuss maximal zur Verfügung stehenden 60 Minuten meist nur 30 bis 40 Minuten in Anspruch. Aber: Vor dem eigentlichen Wettkampf steht das Einschießen und davor das Einrichten. »Die effektive Zeit, in der man sitzt, ist ein gutes Stück mehr als eine Stunde, da muss es schon „gemütlich“ sein«, sagt Moritz Möbius, sagt es in seiner überaus versammelt und gleichzeitig so lebendig wirkenden Art.
Abseits von Olympia agiert der Unterharmersbacher zudem in der Disziplin »Luftgewehr stehend« – ebenfalls auf dem Hocker, jedoch ohne Tischplatte. Im Rollstuhl schießen darf er nicht, »weil mir der zu viel Halt im Rücken geben würde, das wäre nicht klassifizierungskonform.«
Immerhin eine spezielle
Jacke zur Stabilisierung bestimmter Stellen seines Oberkörpers darf er tragen. Beinahe wie eine Jacke für Motorradfahrer sieht sie aus, »damit kommt man im Sommer ganz schön ins Schwitzen«, lacht der junge Mann sein leises, sympathisches Lachen – der Strapaze zum Trotz. Ob er die Präzision, die er für seinen Sport benötigt, auch privat lebt? „Ich versuche es“, lacht er wieder, diesmal mit einer heiteren Prise Selbstironie.
Trainieren, trainieren – und trotzdem voll berufstätig
Die Leidenschaft packte Moritz Möbius dereinst beim Ostereierschießen in seinem Geburtsort Gengenbach. Als er daraufhin dem Schützenverein Zell am Harmersbach beitrat, wo er seither regelmäßig trainiert, war er zwölf.
Ab dem 16. Lebensjahr nahm er regelmäßig an den Deutschen Meisterschaften in München teil, wurde schließlich zum Sichtungsschießen am Bundesstützpunkt im thüringischen Suhl eingeladen. Beim zweiten Anlauf überzeugte er mit seinen Leistungen, ist seit August 2020 Mitglied der deutsche Nationalmannschaft der Parasportschützen.
Allerdings: Wegen Corona konnte er keine internationale Wettkampferfahrung sammeln – lediglich zwei Wettbewerbe fanden schließlich noch statt. Die aber wusste Moritz Möbius bestens zu nutzen, auf dem Weltcup in Perus Hauptstadt Lima sowie beim Grand Prix in Serbien sicherte er Deutschland einen zweiten Quotenplatz für die Paralympics und qualifizierte sich selbst zur Teilnahme.
Ein diszipliniert erarbeiteter Erfolg. Für den trainiert der vollberufstätige Industriekaufmann regelmäßig mit Nationalmannschaft und Bundestrainer sowie zusätzlich auf der Schießanlage des ihn intensiv unterstützenden Heimatvereins. Diese Anlage darf er dank eines eigenen Schlüssels aufsuchen, wann immer es ihm seine knapp bemessene Zeit erlaubt.
Stets auf Hilfe jedoch ist Moritz Möbius beim Training angewiesen. Zur Zeller Schießanlage wird er daher abwechselnd von Vater, Mutter, Schwester oder Freundin begleitet. Zum einen, um den ebenso schweren wie sperrigen Gewehrkoffer zu tragen. Zum anderen, um den Aufbau zu bewerkstelligen.
Muskelgedächtnis und Mentaltraining
Teils besteht das Training des Schützen des Behindertensportverbands auch aus »Trockenübungen«, die er zuhause durchführt. Ein spezielles elektronisches System samt einer »ganz feinen« Kamera am Gewehrlauf ermöglicht ihm dies. Mit dem Ziel, Bewegungsabläufe zu optimieren »und das Muskelgedächtnis zu füttern, damit man im Flow bleibt.«
Und dann ist da noch das intensive Mentaltraining. Das praktiziert der gehandicapte Athlet, seit er der Nationalmannschaft angehört: »Wir haben verschiedene Mentaltrainings, auch für die Hand-Augen-Koordination und für die Reaktionsfähigkeit, da arbeiten wir mit verschiedenen Computerprogrammen.« Ein Mentaltrainer wiederum vermittelt verschiedene Methoden, »wie man sich entspannen und runterkommen kann.«
Ganz wichtig ist dem Ausnahme-Schützen, vor einem Wettkampf eine feste Routine einzuhalten. Damit er in einer fremden Situation seine gewohnten Abläufe abspulen kann. Denn darum gehe es beim Wettkampf: »Mein Programm abspulen und alles andere ausblenden. Das ist aber eine Übungssache.«
Dass er bei Olympia natürlich etwas nervöser sein werde als sonst, prognostiziert der Ausnahme-Schütze, aber eben dafür hat er sein für ihn persönlich stimmiges Routine-Programm entwickelt, hat es immer wieder eintrainiert. »Ich habe meine Abläufe, immer wieder das Gleiche.
Dadurch versuche ich alles auszublenden und mich nur auf meine Technik und mei-ne Abläufe zu konzentrieren.« Das sei nicht immer ganz einfach«, so Moritz Möbius, »aber dadurch habe ich die Nervosität im Griff.«
Besagte Routine beginnt bereits am Vorabend. Sie betrifft das Essen, das Schlafen, die Kommunikation mit anderen, „und dann höre ich immer eine Stunde vor dem Wettkampf meine Musik.“ Durch sie kommt er nicht nur in gute Laune: „Ich bin dann auch richtig heiß auf den Wettkampf – und freue mich riesig, dass ich mich wieder messen kann.“ In Tokio will der Para-Sportschütze das Finale der besten Acht erreichen – tief von innen heraus lässt ihn die Vorfreude strahlen: auf die Wettkämpfe am 01. und 04. September.
Paralympics
Die 19. paralympischen Sommerspiele in Tokio finden vom 24. August bis 05. September 2021 statt. Sie werden von rund 4.300 Athleten aus 160 Ländern in 22 unterschiedlichen Sportarten ausgetragen. Das Para-Sportschießen gehört seit 1976 zum Wettkampfprogramm.


Wir, die Mitglieder vom Sportschützenverein Zell am Harmersbach, sind stolz auf Moritz und drücken ihm alle die Daumen!